Klare Kante gegen Ausgrenzung

Sie starten mit Volldampf. An den Laternen, in Schaufenstern, auf der Titelseite des Amtsblattes – überall in Schmalkalden prangt das rot-weiße Logo, ein Schutzschild mit der Aufforderung „Stoppt Mobbing!“.
Gleich am Ortseingang sind unübersehbar Thomas Kaminski und Ralf Liebaug plakatiert, jeder eine Hand zum Stopp-Signal erhoben. Dass die beiden sich so prominent zusammen positionieren, findet in der Stadt nicht jeder gut. Denn: Mitte April steht in Schmalkalden die Bürgermeisterwahl an. Kaminski ist der Amtsinhaber, Liebaug der Gegenkandidat.
Jeder sechste Jugendliche wird regelmäßig gemobbt
Trotzdem – nein, gerade deswegen haben sich die beiden Seite an Seite ablichten lassen. Mobbing zu bekämpfen sei kein Wahlkampfthema, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, erklären beide.
Beinahe jeder sechste 15-Jährige ist regelmäßig Opfer von teils massivem Mobbing an seiner Schule. Zu diesem Ergebnis kam im vergangenen Jahr die PISA-Studie der OECD. Das kann zur Entwicklung von Depressionen, Angsterkrankungen oder gar chronischen Schmerzen und Herz-Kreislauferkrankungen beitragen. Und jedes Jahr nehmen sich in Deutschland Jugendliche das Leben, weil sie gemobbt werden. Mit Schmalkalden setzt erstmals eine Stadt in Thüringen öffentlich ein Zeichen gegen Mobbing.
von Ralf LiebaugWir können nicht von unseren Kindern etwas verlangen, das wir als Eltern nicht vorleben.
Als Außerstehender sucht man dafür erst einmal den Grund. Schmalkalden liegt im Südwesten des Freistaates, ist eingebettet von Bergen und Wald, hat knapp 20.000 Einwohner. Der Weg zum Gespräch mit den Köpfen der Aktion führt ins Zentrum, wo liebevoll sanierte Fachwerkhäuser aneinander lehnen. Gibt es hier ein Problem?
Miteinander reden statt übereinander
Nein, große Vorfälle im Zusammenhang mit Mobbing habe es hier noch nicht gegeben, sagt der amtierende Bürgermeister. „Aber es gibt viele kleine Dinge, die wir im Alltag hinnehmen, weil sie vielleicht schon immer so waren.“
Ausgrenzung passiert in der Schule, im Beruf, im sozialen Umfeld. Ob es nun Mobbing heißt oder Hänseln, in Schmalkalden wollen sie die Debatte anstoßen, ohne dass erst ein Unglück passiert. Besonders mit den Jugendlichen in der Stadt wollen sie ins Gespräch kommen.
Die Initialzündung war eine Begegnung von Thomas Kaminski und Ralf Liebaug mit Anti-Gewalt-Trainer Carsten Stahl bei einer Veranstaltung eines örtlichen Fitness-Centers. Stahl, als Detektiv im Fernsehen bekannt geworden, hat sich den Kampf gegen Mobbing zur Lebensaufgabe gemacht. Man vermutet es nicht – aber der muskelbepackte, tätowierte Mann war als Kind selbst Mobbingopfer, begann sich zu wehren, wurde selbst zum Täter.
Mobbing in der realen und der digitalen Welt
Stahl ist entschlossen: Das muss aufhören. Und zwar nicht nur auf dem Schulhof oder im Büro, sondern auch in sozialen Netzwerken und Castingshows im Fernsehen. „Schauen Sie sich mal Germany’s Next Topmodel an“, sagt Stahl. „Da sitzt das Idol vieler Mädchen vorn und fällt Urteile.“ Er treffe dann in den Schulen auf die Mädchen, die gehänselt würden, weil sie ein bisschen mehr auf den Hüften hätten.
von Carsten StahlIch habe heute leider kein Foto für dich. Heidi Klum könnte genauso gut sagen: Du bist nicht hübsch genug, geht weg!
Den Opfern Schutz geben, Mitläufer sensibilisieren und den Tätern die Energie nehmen – so soll der Kreislauf durchbrochen werden. Wie das geht? Stahl will, dass Täter und Opfer sich austauschen, die Perspektive wechseln. „Das Opfer kann erkennen: es ist nicht allein“, so Stahl. „Und die Täter merken, warum sie zu Tätern geworden sind.“
1200 Schüler beim Auftakt
In der ersten großen Veranstaltung im Rahmen der Aktion „Stoppt Mobbing!“ mit Carsten Stahl passierte genau das. 1200 Schüler aus Schmalkalden, Floh, Mühlhausen und Bad Salzungen kamen. Viele teilten ihre Erfahrungen, manchmal flossen Tränen. Die unmöglichsten Schimpfworte wurden auf einer großen Tafel zusammengetragen. Ein aufrüttelndes Erlebnis.
Anfangs seien die Einrichtungen zurückhaltend gewesen, womöglich aus Sorge, als Problemschule abgestempelt zu werden, wenn man nur Interesse an einem offenen Gespräch über Mobbing zeige. Nachdem der Knoten geplatzt war, wollten sogar Schulen aus den umliegenden Städten mitmachen.
Schulen nicht allein lassen
Und die Initiatoren denken weiter. „Wir wollen nicht nur einen Hype erzeugen und dann die Jugendlichen allein lassen, sondern haben das Thema zu Ende gedacht und -organisiert“, sagt der Bürgermeister.
So hat sich ein Netzwerk gebildet: Sozialarbeiter, Jugendparlament, Kulturverein Villa K, Evangelische Kirche, Weißer Ring und zahlreiche andere sind Anlaufpunkt und werden die Beratung und Betreuung von Betroffenen langfristig übernehmen.
Fotos: Wolfgang Benkert