Seltene Erkrankungen – eine Herausforderung für Betroffene, Angehörige und Ärzte

Dr. Jagemann, was sind Seltene Erkrankungen?
Erkrankungen gelten als selten, wenn sie nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betrifft. Es gibt aber ca. 8.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen, sodass insgesamt viele Menschen daran leiden, in Deutschland schätzungsweise über vier Millionen. Die Erkrankungen sind meist komplex und können auch chronisch verlaufen. In der Regel sind sie genetisch bedingt und nicht heilbar. Es gibt aber auch seltene Infektionskrankheiten oder Autoimmunerkrankungen. Die Ursachen sind bei den meisten Seltenen Erkrankungen noch unklar.
Die Patienten haben meist eine wahre Odyssee hinter sich, ehe sie die richtige Diagnose erhalten. Ihre Krankenakte ist in der Regel dick: gefüllt mit Blutbildern, CT-Berichten usw. Eine Seltene Erkrankung früh gezielt zu diagnostizieren und die erfolgversprechendste Therapie einzuleiten, ist in jedem Einzelfall eine große Herausforderung. Leider gibt es noch zu wenige medizinische und wissenschaftliche Studien. Die Betroffenen fühlen sich häufig allein gelassen und sind mit psychologischen, sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert. Ihre Lebensqualität ist massiv eingeschränkt.
Wenn der Verdacht auf eine Seltene Erkrankung besteht, wohin sollte man sich dann wenden?
Der Hausarzt oder Kinderarzt wird den Patienten bei einem solchen Verdacht an spezielle Zentren überweisen, denn die Betroffenen benötigen sowohl für die Diagnostik als auch für die therapeutische Versorgung eine besondere Expertise. Diese wird durch interdisziplinäre Teams vor allem an Unikliniken gewährleistet, Kompetenzen werden hier gebündelt. So tauschen sich die verschiedensten Experten beispielsweise in Fallkonferenzen unmittelbar aus.
Und wie geht es nach der Diagnose weiter?
Zuerst einmal sind die Patienten meist erleichtert, dass es eine Ursache gibt, dass sie sich ihre Beschwerden nicht einbilden. Sie verbinden damit die Hoffnung zumindest auf Linderung. Wird eine Seltene Erkrankung diagnostiziert, sollte der Patient anschließend möglichst wohnortnah ambulant in spezialisierten Zentren behandelt werden. Das ist für die Kinder und ihre Eltern natürlich viel besser als immer wieder Tage oder Wochen in verschiedenen Kliniken verbringen zu müssen. Wichtig wären virtuelle Krankenakten, in denen alle Daten der stationären und ambulanten Versorgung digital vernetzt werden. Derzeit ist die spezialisierte ambulante Versorgung noch auf größere Krankheitsgruppen wie onkologische Erkrankungen ausgerichtet, nicht auf Seltene Erkrankungen. Hier besteht Nachholbedarf.
Auch wenn eine Heilung nicht möglich ist, kann durch entsprechende Pflegemaßnahmen die Lebensqualität verbessert und gegebenenfalls die Selbstständigkeit erhalten werden.
Da Seltene Erkrankungen meist schon im Kindesalter auftreten, könnte da ein Neugeborenenscreening helfen, sie frühzeitig zu diagnostizieren?
Etwa eins von 1.000 Neugeborenen hat eine angeborene Erkrankung. Bei der Geburt scheinen die Babys völlig gesund zu sein. Deshalb ist ein Neugeborenenscreening so wichtig, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen und schnellstmöglich mit der Therapie zu beginnen. So können viele Kinder vor schweren Folgen bewahrt werden. Derzeit werden mit dem Neugeborenenscreening 14 Krankheiten des Stoffwechsels, des Hormon- und des Immunsystems erfasst. Künftig werden sicher weitere Krankheiten in das Screeningprogramm aufgenommen. Wichtig ist aber auch, die Therapie und Langzeitbehandlung der Patienten zu sichern, wenn sie ins Erwachsenenalter kommen. Hier gibt es noch wenige Erfahrungen.
Wer an einer Seltenen Erkrankung leidet, fühlt sich oft allein gelassen. Haben Sie einen Tipp, wo die Betroffenen im Alltag Hilfe finden?
Ich denke da zuerst an Selbsthilfegruppen. Hier können sich die Betroffenen austauschen und gegenseitig helfen. Diese Gruppen sind eine wichtige Ergänzung der professionellen Versorgung. Bei der AOK PLUS gibt es hierzu eine spezielle Datenbank.
Seltene Erkrankungen bundesweit im Fokus
Der lange Weg zur richtigen Diagnose belastet nicht nur die Familien extrem, sondern ist für das Gesundheitssystem auch sehr teuer. So gab die AOK PLUS beispielsweise 2019 allein für Arzneimittel, die den Betroffenen mit einer Seltenen Erkrankung ambulant verordnet wurden, über 133 Millionen Euro aus. Hinzu kamen Arzneimittel für Therapien im Krankenhaus sowie ambulante und stationäre Behandlungskosten. Gut in Erinnerung ist sicher vielen noch das an spinaler Muskelatrophie erkrankte Baby, das Ende vorigen Jahres mit Zolgensma ein in Deutschland bisher nicht zugelassenes Medikament erhielt. Die AOK PLUS zahlte für diese Einmalinjektion rund zwei Millionen Euro – das teuerste Arzneimittel der Welt.
Doch nicht erst seitdem steht das Thema Seltene Erkrankung im Fokus vieler Fachleute. Bereits 2010 wurde unter Federführung des Bundesgesundheitsministeriums ein Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben gerufen. Als Kernaufgabe wurde die Implementierung von Zentren für Seltene Erkrankungen genannt. Hier sollen die Diagnostik und sektorenübergreifende Behandlung erfolgen.
Alle wesentlichen Akteure des Gesundheitswesens wurden aufgefordert, Defizite in der Versorgung und effiziente Maßnahmen zu benennen, um die gesundheitliche Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern.
2013 wurde hierzu ein Nationaler Aktionsplan veröffentlicht. Er enthält 52 Maßnahmenvorschläge in vier Handlungsfeldern, beteiligt sind 28 Bündnispartner, alles zentrale Akteure im Gesundheitswesen. Daraus hervorgegangen ist u.a. das Innovationsfondsprojekt TRANSLATE-NAMSE. Einer der Projektpartner ist das UniversitätsCentrum für Seltene Erkrankungen (USE) am Universitätsklinikum Dresden. Auch die AOK PLUS beteiligt sich hier als Kooperationspartner.
Seit Ende 2017 setzen die Partner bundesweit drei Jahre lang einzelne Maßnahmenvorschläge um und erproben, ob sie in die Regelversorgung übernommen werden sollten. Welche Maßnahmenvorschläge bisher wie umgesetzt wurden, steht hier. Weitere Infos gibt es im „Zentralen Informationsportal Seltene Erkrankungen“.